20.05.2025

Taiwan Today

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Mehr als nur Gebetshäuser

01.01.1996
Aus der Ferne betrachtet sehen die neueren Tempel so schön aus wie die alten. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, daß heutzutage an den zeitaufwendigen Details der traditionellen Tempelbaukunst gespart wird, um den Bau möglichst schnell fertigzustellen.

Taiwans Tempel waren von jeher nicht nur Gotteshäuser, sondern auch der wichtigste Schauplatz für Aktivitäten in den Gemeinden. Trotz des stärker werdenden Wettbewerbs mit anderen Stätten vergrößern viele Tempel ihr Angebot an Kulturveranstaltungen.

Beim Stichwort Tempel fallen spontan Bilder von bunten Festen ein, bei denen Tausende von Gläubigen und Zuschauern am Straßenrand stehen, während überlebensgroße, schwingende Puppendarstellungen der Götter von Trommeln und explodierenden Feuerwerkskörpern begleitet an ihnen vorbeiziehen. Stelzenläufer überragen die Zuschauer, Löwentänzer schlängeln sich durch die Straßen, um den Geschäftsleuten am Ort Glück zu bringen, und Gruppen von Tempelangehörigen mit stark geschminkten Gesichtern und in traditionellen Kostümen tragen große, aufwendig geschnitzte Sänften für die Götter. Die Sinne werden von grellen Farben, ohrenbetäubendem Lärm und dem Geruch von Knallkörpern gemischt mit den Aromen der unvermeidlichen Imbißstände überwältigt.

Diese aufregenden Prozessionen sind jedoch nur einer von vielen Höhepunkten im ereignisreichen religiösen Jahreskalender. Die Zahl der buddhistischen, taoistischen und VolksgötterTempel auf Taiwan geht in die Zehn­tausende. Ihre Größen reichen von kleinen Schreinen für den Erdgott an den Rändern der Reisfelder bis hin zu den großen, mehrstöckigen Gotteshäusern in den Städten, die auf der ganzen Insel jeden Tag von Tausenden gläubiger Taiwanesen aufgesucht werden. Unabhängig von ihrer Größe gehören die Tempel ganz selbstverständlich zum Alltag. Ob in malerischen Berggegenden oder den lebendigen Einkaufsvierteln der Städte, die zahllosen Minitempel mit nur einem Raum sind überall anzutreffen, und sie sind jederzeit geöffnet. In den größeren Tempeln ist Verwaltungs- und Instandhaltungspersonal erforderlich. Sie sind im allgemeinen von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr abends geöffnet. Nur selten sind sie einmal leer. Den ganzen Tag über herrscht ein reges Kommen und Gehen der Besucher, die entweder beten, Räucherstäbchen entzünden oder die Götter bei persönlichen oder familiären Problemen um Rat und Hilfe bitten.

In einem chinesischen Tempel ist das Zwiegespräch mit den Göttern für gewöhnlich eine persönliche Sache, denn es gibt mit Ausnahme hoher Festtage keine formellen Gottesdienste. Viele Gläubige bleiben nur für einen kurzen Moment am Tempeleingang stehen, wo sie ihre Hände zusammenpressen und sich in Richtung der am Hauptaltar aufgereihten Götterstatuen verbeugen. Andere nehmen sich mehr Zeit, kommen herein, kaufen Räucherstäbchen und bewegen sich langsam von Nische zu Nische, um mit den auf den verschiedenen Altären repräsentierten Göttern oder Bodhisattvas zu kommunizieren.

Doch die Tempel sind weit mehr als Orte des Gebets und des religiösen Trostes. Sie dienen in der Nachbarschaft als kleine Gemeindezentren, in denen man mit Freunden Klatsch und die neuesten politischen Nachrichten austauscht. Hierher kommen die Anwohner auch, um sich zum Lesen in den Schatten zu setzen oder einfach nur, um die vorbeigehenden Leute zu beobachten oder sogar, um ein ungestörtes Mittagsschläfchen zu halten. Kinder spielen auf den Steinplatten, Großmütter tauschen Kochrezepte aus, Geschäftsleute kommen zusammen, um Streitigkeiten zu regeln, Kriegsveteranen spielen Schach an niedrigen Tischen, und Schüler lümmeln sich auf die Bänke, um Comics zu lesen oder über ihren Schulbüchern zu brüten.

Die aufwendig gestaltete Kanglang-Villa ist ein dem Tai-Tien-Tempel angeschlossenes Gästehaus. Seit ihrer Einweihung kommen mehr Besucher zu den Festen und anderen Aktivitäten als je zuvor.

Die meisten Tempel werden mit finanzieller Unterstützung aus der direkten Nachbarschaft gebaut und instand gehalten. Geführt werden sie von einem jeweils aus gewählten Gemeindemitgliedern zusammengesetzten Verwaltungsausschuß oder Direktorium. Die Mitglieder dieser Gremien verpflichten das religiöse und das übrige Personal und arrangieren besondere Veranstaltungen und Feierlichkeiten. Darüber hinaus organisieren sie Spendenaktionen für Sonderprojekte wie die Beschaffung der Ausstattung für die Götterstatuen, größere Renovierungsarbeiten und Reparaturen.

Während Taiwans Tempel traditionell gleichzeitig auch als soziale Treffpunkte fungieren, erweitern einige der größeren ihr Wirkungsfeld auf die Förderung der Kultur in ihrem Einzugsbereich. Die Gemeindearbeit konzentrierte sich traditionsgemäß auf karitative Programme und Lebensberatung. Jetzt bieten jedoch immer mehr Tempel Kursprogramme in traditioneller Musik, Kalligraphie und Malerei an, oder sie veranstalten größere Kunstereignisse.

Diese Wende spiegelt die veränderten Interessen und Bedürfnisse der Tempelgänger von heute wider. Als früher die meisten Menschen für ihren Lebensunterhalt hart auf dem Feld arbeiten mußten, verlangten sie außer Regen zum richtigen Zeitpunkt und Schutz vor Schädlingsbefall nicht viel von den Göttern. Die Industrialisierung und Modernisierung haben den Menschen jedoch größeren Wohlstand gebracht und zu einer Veränderung ihrer Lebensgewohnheiten geführt. Die Taiwanesen geben heute nicht nur mehr Geld für Gaben an die Götter und Spenden an die Tempel aus, sondern opfern auch einen größeren Teil ihrer Freizeit für tempelinterne Aktivitäten. Darüber hinaus hat die soziale und politische Liberalisierung der letzten fünfzehn Jahre auch an der Basis der Gesellschaft zu einem wachsenden Interesse an einer Entwicklung der Kultur geführt.

Einer der in kulturellen Angelegenheiten aktivsten buddhistischen Tempel auf der Insel ist der Tai-Tien-Tempel. Er wurde 1662 auf einer kleinen Insel vor Nankunshen gegründet, einem kleinen Küstenort nördlich von der Stadt Tainan im Süden Taiwans. Der Tempel wurde errichtet, nachdem einige Bürger der südchinesischen Provinz Fukien einem buddhistischen Brauch zur Verbreitung der Religion folgend ein kleines Boot mit den Statuen von fünf Gelehrten aufs Meer schickten, die während der Tang-Dynastie (618-907) heilig gesprochen worden waren, weil sie sich geopfert hatten, um andere vor der Pest zu retten. Das Boot kam bis nach Taiwan, wo Buddhisten für die Figuren einer Schrein bauten. 1817 wurde der Tempel an seinen heutigen Standort verlegt. Neben den fünf Gelehrtenfiguren, auch wang-yeh (王爺 ) genannt, sind in dem Tempel drei Statuen der Göttin der Barmherzigkeit Kuanyin sowie eine des Herrschers über die Unterwelt untergebracht, der über das Schicksal der Menschen in ihrem nächsten Leben bestimmt.

In Anbetracht seines Ursprungs und seiner langen Geschichte ist es nichtverwunderlich, daß sich Künstler und Wissenschaftler vom Tai-Tien-Tempel gleichermaßen angezogen fühlen. Ein Blick auf den derzeitigen Verwaltungsausschuß unterstreicht dies. Der Vorsitzende Huang Chiu-chung ( 黃秋鐘) ist Bildhauer, der Verwaltungschef Chen Chung-hsien (陳崇顯 ) Kunstsammler, der Leiter der Instandhaltungsabteilung Li Kuo-tien ( 李國殿 ) Kalligraphiekünstler und Fotograf und der Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit Wu Kou (吳鈎) ein Dichter. Der hohe Anteil an Künstlern in der Tempelleitung hat zu Tai Tiens Tradition von Kulturveranstaltungen geführt. Seit Jahrzehnten fördert der Tempel zum Beispiel Lyrikklubs.

Während solche Aktivitäten heute vielleicht ein wenig farblos erscheinen mögen, erforderte die Ausrichtung dieser intellektuellen Zusammenkünfte vor der Aufhebung des Kriegsrechts 1987 ein hohes Maß an Mut und Ausdauer. "Wir hatten oft Besuch [von Regierungsbeamten]", berichtet Chen Chung-hsien. "Warum? Sie beobachteten unsere Diskussionen mit Argwohn. Aufgrund der vergifteten Atmosphäre zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten stand man Versammlungen intellektueller Natur aus Furcht, daß ideologische Themen auf den Tisch kommen könnten, nicht gerade positiv gegenüber." Siebzehn Jahre lang hat der Tempel auch ein Sommersymposium organisiert, auf dem bekannte Schriftsteller ihre kreativen Erfahrungen mit Literaturinteressierten teilten.

Wie hier im Hsing-Tien-Tempel in Taipei kommen täglich viele Gläu­bige in Taiwans zahllose Gebetshäuser, um mit den verschiedenen Göttern zu kommunizieren.

In den letzten Jahren hat sich der Tai-Tien-Tempel die offenere gesellschaftliche und politische Atmosphäre auf der Insel zunutze gemacht und die Förderung der örtlichen Kultur weiter vorangebracht. Besonders stolz ist das Tempelpersonal auf seinen seit drei Jahren stattfindenden Literaturworkshop, der während der Winterferien den öffentlichen Schulen offensteht. Ein während des Workshops aufgekommenes Problem hat die Notwendigkeit unterstrichen, mehr Gewicht auf die Wurzeln der taiwanesischen Kultur zu legen. "Unsere Diskussionen über taiwanesische Gedichte wurden ständig von Gelächter unterbrochen, weil sogar Taiwaneser Schwierigkeiten beim Lesen hatten", sagt PR-Direktor Wu Kou. "Zumindest ist es ein Anfang", sagt Chen Chung-hsien. "Es ist jedoch ein Jammer, wenn die Men­schen, die hier leben, kein Taiwanesisch sprechen können. Es ist einfach nicht richtig, daß in den Schulen nur Mandarin gesprochen wird, denn das Taiwanesische ist für ein echtes Verständnis der Kultur und Bräuche auf Taiwan unerläßlich."

Der Tien-Hou-Tempel in Luerhmen, einem nur 181 Haushalte umfassenden Fischerdorf nördlich von Tainan, widmet sich ebenfalls einem breiteren sozialen und kulturellen Aufgabenfeld. Er ist einer der bekanntesten Matsu-Tempel auf Taiwan. Die Meeresgöttin Matsu ist natürlich ganz besonders unter den Fischern eine der populärsten Gottheiten. Viele Bewohner Luerhmens halten ihr Heimatdorf für den Ort, an dem die chinesische Kultur erstmals die Insel erreichte. Der Loyalist Cheng Ch'eng-kung (鄭成功,1624-62), auch bekannt als Koxinga, soll als erster in Luerhmen einen Matsu-Tempel errichten lassen haben, um seinem Dank an die Göttin dafür Ausdruck zu verleihen, daß sie die Flut zurückgehalten und ihm so 1661 die Landung an Taiwans Küste ermöglicht hat.

1993 gedachte der Tempel seiner Landung mit einem riesigen Fest. Gläubige arrangierten eine Kolonne von dreißig Schiffen, die an der Küste entlangsegelnd Koxingas Flotte imitierte, und gaben über eine Million NT$ (rund 52 600 DM) für die Nachbildung eines aus Holz und Bambus gebauten ming-zeitlichen Kriegsschiffes aus, das zehnmal kleiner als das Original war. Zu dem Ereignis reisten Tausende von Touristen aus ganz Taiwan an. Die Organisatoren hoffen, daß ähnliche Kulturereignisse und religiöse Feste Luerhmen wirtschaftlich wieder auf die Sprünge helfen werden, da der Ort stark unter dem Einbruch in der Fischindustrie zu leiden hat.

Seit 1993 konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Tempelpersonals auf den neuen Literaturworkshop. Zwischen drei und vier Monaten lang bietet Tien Hou für alle Interessierten Kurse und Seminare an. Über Literatur hinaus enthält das Workshop-Programm noch eine Reihe weiterer Themen wie Umweltschutz und Volkskunst.

Ein erhebliches Maß an Planung und Vorbereitungsarbeit ist für die Zusammenstellung des Programms erforderlich, und einige Tempelmitarbeiter bringen dafür beträchtliche persönliche Opfer. Als Tsai Teng-chin (蔡登進) beispielsweise seine Stellung in der Verwaltung einer Grundschule aufgab, um Veranstaltungsdirektor des Tempels zu werden, schrumpfte sein monatliches Einkommen um 20 000 NT$ (etwa 1050 DM), was für ihn eine beträchtliche finanzielle Einbuße bedeutete. "Meine Frau fragt mich oft, wie wir unsere vier Kinder aufziehen sollen", erzählt er. "Ich sage ihr dann immer, daß sich niemand sonst um unser Heimatdorf kümmern wird, wenn wir es nicht selbst tun, und daß niemand uns unterstützen wird, wenn wir es nicht selbst in die Hand nehmen."

So viel persönlicher Einsatz regt weitere Dorfbewohner zur ehrenamtlichen Mitarbeit bei den Kultur- und Bildungsveranstaltungen des Tempels an. Immer mehr machen von dieser Möglichkeit Gebrauch, darunter auch Lehrer und Studenten aus nahen Colleges. "Wir arbeiten sehr hart in dieser kulturellen Wüste", sagt Tsai mit einem Lächeln, "und wir sind sehr froh, daß wir allmählich einen Silberstreifen am Horizont erkennen können."

Das neue Veranstaltungsprogramm hatte jedoch auch Gegner. "Wir trafen zu Anfang auf Widerstand, da das Komitee sich nicht nachsagen lassen wollte, es würde Geld zum Fenster hinauswerfen", berichtet Chen Hsi-chen (陳熙城), Generalsekretär der Tempelstiftung. Hilfreich bei der Überwindung dieses Widerstands war vor allem die Großzügigkeit des Vorsitzenden Lin Hsien-yang (林仙養), der sogar eine Hypothek auf sein Haus aufnahm, um die Veranstaltungen finanzieren zu können.

Mittlerweile kosten die Aktivitäten im Tempel Millionen von NT$. Dies ist eine enorme Verpflichtung für eine so kleine Gemeinde. Glücklicherweise hat das inselweite Interesse der Öffentlichkeit bewirkt, daß heute dreißig Prozent mehr Gläubige als früher in den Ort kommen und die Besucherzahlen während der Veranstaltungssaison, die eine beliebte Alternative zu Fernsehen, Karaoke und Fast-food-Restaurants bietet, allgemein um siebzig Prozent gestiegen sind.

Eine weitere Entwicklung, von der die Bewegung zum Ausbau kultureller Aktivitäten auf Gemeindeebene angetrieben wird, ist eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Taiwans Tempeln und den zwanzig staatlichen Kulturzentren. Zunächst beteiligten sich viele der Zentren an Tempelfesten, um bei der Lösung der verschiedenen neuen Probleme zu helfen, mit denen die Tempel zu kämpfen hatten. Während der achtziger Jahre mußten einige eine gewisse Vulgarisierung ihrer traditionellen Feste hinnehmen. Private Gruppen organisierten Feierlichkeiten auf den öffentlichen Plätzen vor den Tempeln und ersezten traditionelle Darbietungen wie Taiwan-Oper und Puppentheater durch Striptease-Shows und Karaokesänger, um ein größeres Publikum anzuziehen. Ein anderes Problem war die wachsende Verschwendungssucht bei der Ausrichtung privat organisierter Tempelfeste.

Um diese Probleme zu überwinden, versuchten viele Tempel, ihre eigenen größeren Veranstaltungen und Feste zu organisieren, um den Standard und die Traditionen aufrechtzuerhalten. Dafür wandten sich einige an die in der Organisation solcher Veranstaltungen erfahreneren Kulturzentren um Rat.

Des weiteren versuchten die Kulturzentren, den Trend zu schlechterer Handwerksqualität in den neueren Tempeln zu bekämpfen. In der Vergangenheit dauerte der Bau eines Tempels aufgrund der komplizierten Holz-, Stein-, Fliesenlege- sowie Näh- und Stickarbeiten mehrere Jahrzehnte. Heute stehen viele Tempel jedoch bereits innerhalb eines Jahres, da anstelle von Holz mit Zement gearbeitet und an Details gespart wird. Traditionelle Dekorationsmotive werden einfach durch kitschige Imitationen ersetzt. Einige Kulturzentren legten daraufhin den Tempelverwaltungen ans Herz, das Niveau nicht der Geschwindigkeit zum Opfer fallen zu lassen. "Taiwan ist zu einem Symbol für Wohlstand geworden", sagt Yeh Chia-hsiung (葉佳雄), Direktor des Kreis-Kulturzentrums Tainan. "Während die alten Tempel eifrig renoviert und vergrößert werden, versuchen wir an den Wert der alten Kunstgegenstände zu erinnern. In dieser schnellebigen Zeit ist die aufwendige Volkskunst von früher besonders wertvoll und sollte nicht ignoriert werden. Sonst werden unsere Nachkommen über unseren schlechten Geschmack lachen, wenn sie sehen, was wir geschaffen und ihnen hinterlassen haben."

Heute beteiligen sich die Zentren an bestimmten Tempelprojekten und -veranstaltungen. Eines der ersten dieser Art war ein 1992 initiiertes Gemeinschaftsprojekt des Tai-Tien-Tempels und des Kreis-Kulturzentrums Tainan zur Eröffnung der Kanglang-Villa, eines dem Tempel angeschlossenen Gästehauses mit 72 Zimmern. Der neue Besucherzustrom veranlaßte den Tempel, über die religiösen Dienste hinaus auch Kunstausstellungen und andere Kulturveranstaltungen anzubieten. Chen Chung-hsien von Tai Tien ist bisher sehr zufrieden mit dem Unternehmen. "Zum ersten Mal hat die Regierung eine so positive Haltung gegenüber den Tempeln gezeigt", lobt er.

Zahlreiche andere Tempel haben sich mittlerweile ebenfalls mit den Kulturzentren für die Organisation kultureller Veranstaltungen zusammengetan. Das Nationale Kultur- und Kunstfestival, das inselweit stattfindet und vom Regierungsausschuß für Kulturelle Angelegenheiten organisiert wird, umfaßte 1994 zum Beispiel auch eine Veranstaltungsserie in verschiedenen Tempeln. Tai Tien war in Zusammenarbeit mit dem Kreis-Kulturzentrum Tainan Gastgeber einer Reihe von sechzehn Karnevalsdarbietungen zweier örtlicher Volkstanzensembles. Darüber hinaus gab es eine Fotoausstellung über diese Kunstform sowie eine Ausstellung von Requisiten, Kostümen und Accessoires. Mehrere Tempel im ältesten Stadtbezirk von Taichung in Zentraltaiwan organisierten gemeinsam mit dem Städtischen Kulturzentrum Taichung Ausflüge zu historischen Tempeln sowie Volksopernaufführungen, eine Ausstellung dekorativer Laternen und eine Dichterlesung.

Obwohl die Entwicklung dieser Form der Zusammenarbeit jetzt schneller voranschreitet, müssen einige sich hartnäckig haltende Vorurteile noch beteitigt werden. Einige Regierungsbeamte sehen in den Tempeln in erster Linie Schauplätze für niveaulose Kulturspektakel und benutzen sie nur für offizielle Bekanntmachungen und zur Werbung für gesundheits- und bildungspolitische Kampagnen. Im Gegensatz dazu sehen die Verwalter der Tempel ihre Stätten als die traditionellen Zentren des Gemeindelebens und die wichtigsten Kulturhüter an .

Schwierigkeiten gab es auch bei dem Versuch, die Zielsetzungen und Zeitpläne zweier unterschiedlicher Verwaltungssysteme unter einen Hut zu bringen. "Die Beamten bitten uns ständig, für Besuche von ihren Vorgesetzten unseren Terminkalender zu ändern", berichtet Juliana Liu (劉瑞娥), Direktorin des Hsing-Tien-Tempels in Taipei. Sie beklagt auch, daß die Staatsdiener zu viel Gewicht auf Statistiken und offizielle Beurteilungen von Veranstaltungen legten und nicht genügend auf die Arbeit selbst. Natürlich kommt es bei Gemeinschaftsvorhaben immer auf die einzelnen Beteiligten an. Chen Chung-hsien schreibt die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Tai Tien und dem Kreis-Kulturzentrum Tainan der positiven Haltung von Yeh Chia-hsiung zu, dem Direktor des Zentrums. "Die grundsätzliche Einstellung ist sehr wichtig", betont Chen. "Wenn diejenigen an den Schalthebeln der Macht unsere Tempel mit Aberglauben gleichsetzen, liegt ein Schatten über jeder Zusammenarbeit." Er erklärt, daß Kultur nicht nur ein Freizeitvergnügen für wohlhabende Bürger oder ein Forschungsthema für Wissenschaftler sei. Auch weist er den alten Regierungsglauben zurück, daß Tempelveranstaltungen zu weltlich und minderwertig seien.

Während der letzten zwei Jahre scheinen die Tempelverwaltungen und staatlichen Kulturzentren jedoch herausgefunden zu haben, daß beide Seiten von einer Zusammenarbeit nur profitieren können. "Bei Gemeinschaftsprojekten wird die Expertise der Kulturzentren mit der finanziellen und personellen Stärke der Tempel kombiniert", erklärt Li Kuo-tien vom Tai-Tien-Tempel. "Wir verhelfen den Kulturzentren zu einem Austragungsort für ihre Großveranstaltungen, und sie helfen uns dafür bei unserer Planung und Öffentlichkeitsarbeit. Viele andere Tempel machen es jetzt genauso."

Kulturzentrumsdirektor Yeh Chia-hsiung stimmt zu, daß beide Seiten von einer Zusammenarbeit ihres Personals und der gemeinsamen Nutzung ihrer Finanzquellen profitierten. "Wir bieten unsere Dienste an, und sie stellen Geld zur Verfügung", sagt er. "Bei diesem Austausch ergänzen sich beide Seiten, und dabei können die eingebrachten Hilfsquellen voll ausgeschöpft werden." Ein weiteres Beispiel dafür ist das Symposium zum Thema Tempel und Volkskultur, das Tai Tien, das Kreis-Kulturzentrum Tainan und der Ausschuß für Kulturelle Angelegenheiten während des Nationalen Kunst- und Kulturfestivals 1994 gemeinsam veranstaltet haben. Hier wurde mit eingeladenen Experten aus dem Ausland über die Beziehung zwischen Religion und Kultur diskutiert. Solche Veranstaltungen erhöhen die Sachkenntnis und stärken die Beziehungen zwischen Staatsdienern und Bürgern.

Die Aktivitäten im Tai-Tien-Tempel illustrieren eine weitere neuartige Herangehensweise an die Kultur. "Wir ermutigen die Leute ohne eine rigide Beurteilung ihres sogenannten künstlerischen Niveaus zu Ausstellungen", sagt Li Kuo-tien. "Wir wissen einfach den Wunsch, sich zu beteiligen, zu schätzen und möchten denjenigen, die nichts von Kunst verstehen, dabei helfen, ein Interesse dafür zu entwickeln." Vor kurzem stellte ein Dorfbewohner über vierzig Bilder aus. "Alle seine Nachbarn kamen, um sich seine Arbeiten anzusehen", erzählt Li. Wir haben unser Ziel erreicht – sein Einsatz wurde belohnt, und wir konnten etwas öffentliches Interesse wecken."

In mancherlei Hinsicht ist es für die Tempel einfacher als für die Kulturzentren, öffentliche Unterstützung für ihre Kulturveranstaltungen zu gewinnen. Die Aktivitäten der Tempel werden häufig als Extras angesehen, während der Steuerzahler von den Kulturzentren ein kontinuierliches Angebot erwartet. "Wir heimsen vielleicht mehr Komplimente ein, weil wir mehr ehrenamtliche Mitarbeiter haben und es für uns leichter ist, Unterstützung von Künstlern zu bekommen", sagt Li Kuo-tien von Tai Tien. "Währenddessen wird sich ständig darüber beschwert, daß die Kulturzentren ihre Arbeit nicht ordentlich machen, wie sehr sie auch versuchen, den Ansprüchen der Bürger gerecht zu werden."

Ein weiterer Vorteil für die Tempel ist die Tatsache, daß mehr junge und dynamische Mitarbeiter und Freiwillige die Arbeit bei ihnen zu bevorzugen scheinen. Sie verjüngen die traditionelle Funktion der Tempel, indem sie religiöse und weltliche Aktivitäten auf die Beine stellen, die den Alltag um bunte und vielfältige kulturelle Dimensionen bereichern. Die von Chen Chung-hsien von Tai Tien zum Ausdruck gebrachte Einstellung scheint sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten: "Die chinesische Kultur manifestiert sich in den Tempeln", meint er. "Unsere Verpflichtung ist nicht nur ihre Bewahrung, sonderr auch ihre Förderung."

(Deutsch von Christiane Gesell) 

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